Rezension
Rezension: Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus

22. Juni 2017 | Simon Schaupp
Die falschen Versprechen des digitalen Kapitalismus: Philipp Staab blickt in seinem Buch "Falsche Versprechen" hinter die Fassade der digitalen Glitzerwelt - dahinter lauern altbekannte Probleme in neuem Gewand.
In seinem Essay âFalsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismusâ geht der Soziologe Philipp Staab der Frage nach, ob die Digitalisierung das Versprechen eines neuen Wachstumsschubes halten kann. Die Digitalisierung identifiziert Staab zunĂ€chst als âneuen Messias des Wachstumsâ (S. 15f). Sie strukturiere jedoch nicht nur die Ăkonomie, sondern auch groĂe Teile staatlicher Verwaltungsprozesse. So stelle beispielsweise Amazon ĂŒber seinen Cloud-Computing-Dienst Amazon Web Services in den USA einen bedeutenden Teil der digitalen Infrastruktur des amerikanischen Verwaltungs- und Regierungsapparates. Ausgehend von dieser Feststellung entwickelt Staab auch seine Theorie des âdigitalen Kapitalismusâ weiter, deren Grundsteine er bereits in anderen Texten gelegt hat (zum Beispiel Nachtwey/Staab 2016). Dieses Konzept definiert er provisorisch als die âDurchsetzung und Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien und der mit ihnen verbundenen ökonomischen und ideologischen Dynamikenâ (S. 11). Als treibende KrĂ€fte der Entwicklung hin zu einem digitalen Kapitalismus beschreibt er die groĂen Internetunternehmen Amazon, Google und Apple, da diese Basistechnologien anbieten, die in den verschiedensten Kontexten genutzt werden und durch ihre enormen finanziellen KapazitĂ€ten die Macht haben, weitgehende Umstrukturierungsprozesse in Gang zu setzen. Als wesentliche politisch-ökonomische Triebkraft hinter dem digitalen Kapitalismus identifiziert Staab das Konsumptionsproblem. Damit bezeichnet er den Widerspruch, dass sich einerseits die ProduktivkrĂ€fte rasch entwickeln, sich andererseits aber die Nachfrage nicht entsprechend steigert. Aufgrund dieses Dilemmas geht mit der Entwicklung der ProduktivkrĂ€fte nicht automatisch eine Steigerung des ökonomischen Wachstums einher. Die zentrale These von Staabs Essay ist nun, dass der digitale Kapitalismus verspreche, dieses Problem durch die Rationalisierung des Konsums zu beheben.
Rationalisierung des Konsums
Die Rationalisierung des Konsums beschreibt Staab analog zu der seiner These nach der Vergangenheit angehörenden Rationalisierung der Produktion. Letztere habe ab den 1980er Jahren unter dem Schlagwort der âLean Productionâ (âSchlanke Produktionâ, Anm. Redaktion) vor allem aus einer Dezentralisierung der Produktion und der verstĂ€rkten Integration von Wertschöpfungsketten bestanden. Parallel hierzu kommt es gegenwĂ€rtig zu einem Rationalisierungsschub, den Staab griffig als âLean-Consumptionâ bezeichnet (S. 64f). Als deren zentrale Charakteristika macht er vor allem drei Faktoren aus. Erstens eine effizientere Warenzirkulation durch die Rationalisierung der Lagerlogistik, wie sie vor allem bei Amazon beobachtet werden kann. Zweitens eine durch allgegenwĂ€rtige Datenerhebung ermöglichte individualisierte Werbung, die dem gesamten Onlinehandel zugrunde liege. Drittens der allzeitliche Zugriff auf den Warenmarkt durch Shopping-Apps auf tragbaren GerĂ€ten, die es ermöglichen, den Einkauf schnell noch auf dem Heimweg im Bus zu erledigen. Effizienzgewinne werden dabei vor allem durch eine Art digitale Selbstbedienung realisiert: War vormals noch Personal dafĂŒr nötig, meine BedĂŒrfnisse zu erkennen und mir in LĂ€den Waren zu verkaufen, so lĂ€sst sich dieses nun weitgehend durch digitale Programme einsparen. In diesem Zusammenhang erinnert Staab an das Konzept des âProsumersâ, die Figur, in der ProduzentIn und KonsumentIn verschmelzen. In Bezug auf die namensgebende Wachstumsproblematik stellt er fest, dass die Rationalisierung des Konsums keine neue Nachfrage generieren kann und deshalb mit dem Einzelhandel um dasselbe Konsumvolumen konkurriert, das auch ohne den E-Commerce realisiert worden wĂ€re. Das Konsumptionsproblem bleibt deshalb weiterbestehen und der vielbeschworene Wachstumsschub erweist sich als falsches Versprechen.
Konsum gegen Produktion?
Staabs Beobachtung einer âLean Consumptionâ erweist sich fĂŒr eine kritische Theorie des digitalen Kapitalismus als ĂŒberaus nĂŒtzlicher Baustein. Vor allem, weil sie in der Lage ist, Analogien zwischen der Rationalisierung von Produktion und Konsum aufzuzeigen und so das Theorem des âProsumersâ weiterzuentwickeln. Auch die Feststellung, dass das Versprechen âdisruptiver Innovationâ, also die Neuerfindung ganzer Marktsegmente, auf der ideologischen Ebene ein zentrales Element des digitalen Kapitalismus darstellt, hat gerade in Bezug auf die von ihm untersuchten Wachstumsversprechen hohe ErklĂ€rungskraft. Fraglich ist dagegen, ob Staabs Ausspielen von Konsum- gegen ProduktionssphĂ€re einer Theorie des digitalen Kapitalismus zutrĂ€glich ist. Seine These ist hier, dass in der ProduktionssphĂ€re âeine grundlegende VerĂ€nderung der Rationalisierungslogiken nicht stattgefundenâ habe (S. 58). Staab sieht in der Dezentralisierung und Individualisierung der Produktion vielmehr alte Strategien der 80er und 90er Jahre. Digitale Technologien radikalisieren fĂŒr ihn nur klassische Kontrollstrategien der Ăberwachung, weshalb er vom âdigitalen Taylorismusâ spricht (S. 92f.). Nun trifft dieses Argument jedoch auch auf die von ihm angefĂŒhrten Neuerungen in der KonsumsphĂ€re zu. Das von ihm zitierte Theorem des âProsumersâ als Beobachtung der Rationalisierung des Konsums stammt selbst aus dem Jahr 1980 (Toffler 1980). Die Integration von Konsum und Produktion stellt unabhĂ€ngig von der Digitalisierung, gerade im Zusammenhang mit der Strategie der Selbstbedienung, eine bewĂ€hrte Rationalisierungsstrategie dar. Paradebeispiel fĂŒr eine solche KonsumentInnenarbeit sind die WarenhĂ€user und Selbstbau-Produkte von IKEA. Das heiĂt nun keineswegs, dass Staabs Beobachtungen falsch wĂ€ren. Die mit der Figur des Prosumers beschriebenen Rationalisierungsstrategien werden unter Bedingungen der Digitalisierung auf eine neue Stufe gehoben, die vorher völlig undenkbar war. Gleiches trifft auch auf die ProduktionssphĂ€re zu. Die den aktuellen Rationalisierungsstrategien zugrundeliegenden Ideen reichen sogar noch weiter als in die 1980er Jahre zurĂŒck, nĂ€mlich bis zur Kybernetik der 1950er Jahre. Bereits dort wurde die Strategie entwickelt, industrielles Management mittels Feedbacktechniken, wie sie auch Staab mit dem Begriff der âPeer-to-Peer-Herrschaftâ identifiziert (S. 96 f.) zu automatisieren und zu einer kontrollierten Selbstorganisation zu gelangen. Es sind jedoch erst die heutigen Technologien der digitalen Prozesssteuerung, die diese Strategien in vollem Umfang realisierbar machen. In der Nachkriegszeit war die Idee des unmittelbaren Feedbacks schlicht technisch nicht realisierbar, da das industrielle Steuerungspersonal nicht ĂŒber die heutige Sensortechnologie und vernetzte Kleinstcomputer verfĂŒgte.
Technik und Strategie
Sowohl in der Konsum- als auch in der ProduktionssphĂ€re ist die digitale Technologie also eingebettet in historische Strategien und KĂ€mpfe, die auĂerhalb der Technologien selbst zu verorten sind. Die technologische Entwicklung hebt diese Strategien auf eine weitere Ebene und fĂŒhrt teilweise zu deren Transformation. Deshalb gilt es, sowohl die Entwicklungen der Konsum- als auch der ProduktionssphĂ€re in eine kritische Theorie des digitalen Kapitalismus mit einzubeziehen, wie es Staab selbst mit seinem Theorem des âdigitalen Taylorismusâ ja auch tut. Philipp Staab leistet mit dem vorliegenden Essay einen wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung dieser Theorie. Lesenswert ist der Band vor allem aufgrund der originellen Dekonstruktion der aktuellen Wachstumsdiskurse und seiner empirisch unterfĂŒtterten prĂ€gnanten Thesen zur âLean Consumptionâ.
Bibliografische Angaben
Philipp Staab 2016: Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus. Hamburger Edition, Hamburg. ISBN: 978-3-86854-305-6. 133 Seiten. 12,00 Euro.
ZusÀtzlich verwendete Literatur
- Nachtwey, Oliver/Staab, Philipp (2016): Die Avantgarde des digitalen Kapitalismus. In: Mittelweg 36, Jg. 24, Heft 6: S. 59-84.
- Toffler, Alvin (1980): Die Zukunftschance. Bertelsmann, MĂŒnchen.
Der Artikel erschien in einer ĂŒberarbeiteten Fassung zuerst in kritisch-lesen.de Ausgabe 43/2017.






Simon Schaupp ist Soziologe und forscht derzeit am Munich Center for Technology in Society der Technischen UniversitĂ€t MĂŒnchen zu Fragen der Macht in der digitalisierten Gesellschaft. Zuletzt von ihm erschienen: âDigitale SelbstĂŒberwachung. Self-Tracking im Kybernetischen Kapitalismusâ (Verlag Graswurzelrevolution, 2016) und zusammen mit Anne Koppenburger und Paul Buckermann: âKybernetik, Kapitalismus, Revolutionen. Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandelâ (Unrast Verlag 2017).