Krisenpolitik in der EU: Lohnquoten im freien Fall
9. Juli 2014 | Patrick Schreiner
In der Krisenpolitik von Kommission und Mitgliedstaaten der Europäischen Union spielen Senkungen der Löhne von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine zentrale Rolle. Das Instrumentarium dafür ist breit und reicht von direkten Lohndiktaten im öffentlichen Dienst und bei Mindestlöhnen bis hin zu einer systematischen Schwächung der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Der „Erfolg“ dieser Maßnahmen ist beobachtbar: Die Lohnquoten sinken, und spiegelbildlich entfällt ein immer größerer Anteil der volkswirtschaftlichen Produktion auf Kapital- und Gewinneinkommen.
Sowohl in den Auflagen der so genannten Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds als auch in den Vorschlägen, Forderungen und Beschlüssen der EU-Kommission und der EU-Mitgliedstaaten zur europäischen Krisenpolitik tauchen immer wieder die gleichen Maßnahmen auf, mit denen man die "Wettbewerbsfähigkeit" in Europa erhöhen möchte. Besonders rigide werden Länder in Süd- und Südosteuropa diesem Regime unterworfen. Die meisten der Maßnahmen zielen darauf ab, die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer massiv zu verschlechtern, etwa durch
- die Erleichterung der Befristung von Arbeitsverträgen,
- die Schwächung des Kündigungsschutzes,
- die Senkung von Arbeitslosengeld und Sozialleistungen,
- die Senkung von Mindestlöhnen und Löhnen im Öffentlichen Dienst.
Eine zentrale Rolle spielen in diesem Zusammenhang insbesondere auch „Reformen“ der Tarifvertragssysteme - "Reformen", die in aller Regel darauf hinauslaufen, die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften zu schwächen:
- Verringerung der Tarifbindung,
- Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme,
- Einführung oder Ausweitung von tariflichen Öffnungsklauseln,
- Begrenzung oder Abschaffung des Günstigkeitsprinzips, demzufolge bei konkurrierenden Regelungen (Flächentarifvertrag, Haustarifvertrag, Arbeitsvertrag...) stets die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer günstigsten gelten.
Eine (alles andere als vollständige) Übersicht über Maßnahmen zur Senkung der Löhne, zur Schwächung der Arbeitnehmer/innen und zur Schwächung der Gewerkschaften in vier europäischen Ländern:
- In Griechenland wurden bestimmte Haustarifverträge neu eingeführt, um Abweichungen vom Flächentarifvertrag zu ermöglichen – Abweichungen nach unten. Dadurch ist 2012 gegenüber dem Vorjahr die Zahl der Haustarifverträge etwa um das Vierfache angestiegen – wobei in 80 Prozent der Fälle die Senkung von Löhnen Inhalt der Haustarifverträge war. Das Günstigkeitsprinzip, demzufolge bei konkurrierenden Tarifverträgen stets der für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer günstigere Tarifvertrag gilt, wurde aufgehoben. Die Nachwirkung von Tarifverträgen wurde auf drei Monate begrenzt. 2010 wurden die Mindestlöhne nicht erhöht, real sind sie damit gesunken. 2011 wurde der nationale Mindestlohn um 22 Prozent gesenkt, für Menschen unter 25 Jahren sogar um 32 Prozent. Da die Mindestlöhne in Griechenland von den Tarifpartnern ausgehandelt werden, war dies ein Eingriff in die Tarifautonomie – gegen den Willen von Gewerkschaften wie auch Arbeitgebern. Im öffentlichen Dienst wurden die Löhne qua Diktat um nominal durchschnittlich ca. 30 Prozent reduziert. => Insgesamt sind die Reallöhne in Griechenland 2009 bis 2014 um fast 24 Prozent gesunken.
- Auch in Italien wurden Abweichungen vom Tarifvertrag auf betrieblicher Ebene ermöglicht. Betriebliche Tarifverträge können darüber hinaus nicht nur gegenüber Branchentarifverträgen, sondern auch gegenüber bestimmten gesetzlichen Bestimmungen nach unten abweichen. Im öffentlichen Dienst hat die Regierung die Löhne zwischen 2009 und Ende 2012 faktisch eingefroren, was aufgrund der Inflation zu Reallohnverlusten der Beschäftigten führte. => Insgesamt sind die Reallöhne in Italien 2009 bis 2014 um mehr als 3 Prozent gesunken.
- In Portugal wurde die Quasi-Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen abgeschafft. Zudem wurden auch hier Abweichungsmöglichkeiten gegenüber Tarifverträgen eingeführt, und zwar Abweichungsmöglichkeiten nach unten. 2012 waren gerade noch 85 Tarifverträge in Kraft – vor der Krise lag dieser Wert bei fast 300. 2011 wurden die Mindestlöhne nicht erhöht, real sind sie damit gesunken. 2011 wurden die Löhne im öffentlichen Dienst um fünf Prozent gekürzt, 2010 und 2012 wurden sie eingefroren. Bei bestimmten Entgeltgruppen wurden das 13. und das 14. Monatsgehalt gekürzt oder abgeschafft. => Insgesamt sind die Reallöhne in Portugal 2009 bis 2014 um über 8 Prozent gesunken.
- Auch in Spanien wurden Abweichungsmöglichkeiten auf betrieblicher Ebene geschaffen. Haustarifverträge erhielten einen generellen Vorrang gegenüber Flächentarifverträgen. Die Zahl der von Tarifverträgen erfassten Arbeitnehmer/innen lag 2013 nur noch bei etwa der Hälfte des Wertes der Vorkrisenzeit. 2011 wurden die Mindestlöhne nicht erhöht, real sind sie damit gesunken. Im öffentlichen Dienst wurden die Löhne 2010 um fünf Prozent gekürzt, zudem wurde die Arbeitszeit für alle Beschäftigten im Öffentlichen Dienst auf einheitlich 37,5 Prozent ohne Lohnausgleich reduziert. => Insgesamt sind die Reallöhne in Spanien 2009 bis 2014 um fast 7 Prozent gesunken.
Diese Politik verschärft die Krise, weil sie Deflationsgefahren heraufbeschwört und volkswirtschaftliche Nachfrage wegbrechen lässt. Sie missachtet überdies, dass nicht mangelnde "Wettbewerbsfähigkeit", sondern wirtschaftliche Ungleichgewichte und eine mangelnde Nachfrage in Deutschland und anderen Ländern das Hauptproblem Europas darstellen. Allerdings ist diese Politik insofern „erfolgreich“, als sie ein Kernziel der politisch Verantwortlichen erreicht - die systematische Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands, weg von Lohneinkommen der Arbeitnehmer/innen und hin zu Kapital- und Gewinneinkommen. Ablesbar ist diese Entwicklung an der Lohnquote:
Bereinigte Lohnquoten in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland, Portugal und Zypern, 2009-2014. Quelle: Europäische Kommission, 2014 Prognose, eigene Darstellung.
Die Lohnquote gibt den Anteil der Einkommen von abhängig Beschäftigten am Bruttoinlandsprodukt wieder. Die Grafik zeigt, dass die Lohnquoten 2014
- in Frankreich um 0,3 Prozentpunkte,
- in Deutschland um 0,5 Prozentpunkte,
- in Spanien um 4,7 Prozentpunkte,
- in Portugal um 5,4 Prozentpunkte,
- in Zypern um 6,1 Prozentpunkte und
- in Griechenland um 8,2 Prozentpunkte
niedriger liegen als 2009, Tendenz zumeist weiter sinkend. Im Euroraum insgesamt (18 Länder) beträgt dieser Rückgang 1,1 Prozentpunkte. Insbesondere die hohen Rückgänge in Spanien, Portugal, Zypern und Griechenland sind eindeutig auf die Krisenpolitik zurückzuführen. In Zypern und Griechenland liegt die Lohnquote 2014 sogar unterhalb der 50-Prozent-Grenze – in diesen Ländern entfällt heute also mehr als die Hälfte des Wohlstands auf Kapital- und Gewinneinkommen.
Dies zeigt: In Europa, und zwar vor allem in Südeuropa, ist eine gewaltige Umverteilungsmaschinerie von unten nach oben im Gang.
Der Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2/2014. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.